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ZUR AUTORIN

Katja Kettu zählt zu den wichtigsten Autorinnen Finnlands. 1978 in Rovaniemi im Norden des Landes geboren, schloss sie 2001 ihr Studium an der Kunstakademie ab. Ihr literarischer Durchbruch gelang ihr 2011 mit dem mehrfach preisgekrönten Roman Wildauge, der in Finnland wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste stand, in 20 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde.

Foto: Ofer Amir

Im Gespräch mit Katja Kettu

In Ihrem Roman spielt das Verschwinden von Mädchen, die einer indigenen Minderheit angehören, eine zentrale Rolle. Warum haben Sie sich dazu entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen?

Ich möchte denen eine Stimme geben, die zum Schweigen gebracht werden. Ich will Historikerinnen und Historikern zeigen, wie verletzlich junge Mädchen in Zeiten kultureller Krisen sind, wenn zwei ungleiche ethnische Gruppen – die eine mächtiger als die andere, in diesem Fall geht es um weiße Siedler und amerikanische Ureinwohner – darum kämpfen, ihre jeweiligen Kulturen im selben Gebiet auszuleben. Mir wurde klar, dass die Kolonialisierung der beiden amerikanischen Kontinente gleichsam eine Geschichte von weiblicher Sklaverei und Vergewaltigung ist. Dennoch dachte ich im Grunde, die Dinge hätten sich geändert und dieses primitive Verhalten läge in der Vergangenheit. Als ich zum ersten Mal in einem Reservat in den USA war, war ich schockiert darüber, wie viele Frauen im Laufe der Jahre einfach verschwanden, vergewaltigt, ermordet oder in den Menschenhandel verkauft wurden – und es wirkte, als wäre das den Behörden völlig egal. Diesen Mädchen wurde sogar selbst die Schuld gegeben, weil sie » schlechte Indianermädchen « waren, Abfall, um den man sich nicht weiter kümmern muss. Eine befreundete Menschenrechtsaktivistin wurde als junges Mädchen zweimal vergewaltigt, einmal mit fünf Jahren, einmal mit fünfzehn. In Ojibwe-Reservaten in der Nähe von Duluth sind fünf junge Frauen im Winter und Frühjahr 2016 verschwunden. Eine wurde am helllichten Tage bei lebendigem Leib verbrannt. Die Adoptivtochter eines befreundeten Paares wurde von einer Gruppe weißer junger Männer unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Die Polizei unternahm nichts. Ich begriff, dass wir heute immer noch in einer Gesellschaft leben, in der Männer nicht ins Gefängnis müssen, wenn sie indigene Frauen vergewaltigen und töten. Es gab ein ganzes System von Internaten, in denen man indigene Kinder prügelte, damit sie ihre Sprache und Kultur aufgaben. Sie wurden missbraucht und getötet – und niemand schreibt über sie. Ich wollte ihnen eine Stimme geben. Meine Stimme.

In unserem neuen Verlag spielen Frauen eine wichtige Rolle. Gibt es etwas, das sie gerne schon vor Jahren erfahren hätten und jungen Frauen heute mitgeben würden?

Ich war sehr einsam und schüchtern als junges Mädchen, lebte außerhalb der Stadt und sprach mit meinen Hunden und mit Rentieren. Ich wünschte, ich hätte damals schon gewusst, dass das Leben einfacher wird, wenn man älter wird. Die Welt kann sich verändern, und wir Frauen müssen zusammenhalten, ungeachtet unseres Alters, unserer Ethnien oder unseres Vermögens. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass ich starke, eigensinnige, einfühlsame, liebevolle Frauen treffen werde, wo immer es mich hin verschlägt auf meinen Reisen.

Ich denke, wir alle brauchen die Freundschaft und Loyalität anderer Frauen in unserem Leben, und ich habe beides gefunden. Ich wünschte, ich hätte schon früher gewusst, dass es #metoo geben wird, eine Bewegung, die so viele Frauen überall befreit und dazu ermächtigt hat, ihren eigenen Wert zu erkennen und dass sie selbst über ihre Körper bestimmen. Dinge können sich ändern, Bewegungen wie MeToo und Black Lives Matter sind der Beweis dafür. Künftigen Generationen von Frauen will ich sagen: Seid stark, haltet zusammen. Kämpft für das Recht auf euren Körper, auf eure Intelligenz. Und natürlich für euer Recht zu tanzen!* Gemeinsam sind wir stark!

* Die Anarchistin Emma Goldman sagte: Wenn ich dazu nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution.

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