Rebecca Pert
Raue Wasser
Aus dem Englischen von
Heike Reissig
Roman
Gebunden mit Lesebändchen
336 Seiten
Preis: € 22,– [D] / € 22,70 [A]
ISBN: 978-3-7530-0070-1
Erscheinungstermin: 25. Oktober 2022
Ein traurigschöner Debütroman über Familie und Traumata, Erlösung und Neuanfänge vor der Kulisse der einsamen Shetlandinseln
Jane ist ihr Leben lang vor ihrer Vergangenheit geflohen, aus Angst, die psychische Krankheit ihrer Mutter Sylvia geerbt zu haben. Die ist verschwunden, als Jane noch ein Teenager war.
Jetzt lebt Jane in einem Trailer in einer windumpeitschten Ecke auf den rauen und einsamen Shetlandinseln, arbeitet in einer Fischfabrik und verbringt stille Abende zu Hause, gemeinsam mit Mike, dem ersten Menschen seit vielen Jahren, dem sie sich ein bisschen öffnet.
Als die Leiche ihrer Mutter gefunden wird, kommt die verdrängte Erinnerung an den Tag wieder hoch, an dem vor vielen Jahren ihr kleiner Bruder starb. Alte Wunden werden wieder aufgerissen, und ihr bleibt keine andere Wahl, als sich ihren Dämonen zu stellen.
Heike Reissig überträgt seit 2011 Romane und erzählende Sachbücher aus dem Englischen und Französischen, u. a. von Stephanie Butland, Mary Beth Keane, Helen Callaghan, Simon Lelic, Lauren Weisberger, Helen Fielding, Charlie Lovett, Maria Popova und Martin Gayford. Sie war u. a. Stipendiatin der Berliner Übersetzerwerkstatt und lebt in Köln.
»Sie zieht sich an – Thermohemd unter dem Pullover, Strick- schal, Parka, fingerlose Handschuhe – und verlässt das Haus durch die Vordertür. Ein kalter Windstoß empfängt sie, weht ihr das Haar ins Gesicht. Sie stemmt die Autotür gegen den starken Luftzug auf, schlüpft in den Wagen, schließt ihn hinter sich.
Es ist eine zehnminütige Fahrt von Mikes Cottage zu ihrem Wohnwagen, von Haroldswick nach Baltasound, gerade genug Zeit für eine Zigarette. Während der Fahrt zwirbelt der Rauch nach oben zum offenen Fenster; das Pflaster zischt unter den Autoreifen. Die Straße schlängelt sich wie ein Band durch die Landschaft, stürzt durch das offene Panorama von Himmel, Moor und See, vorbei an metallisch glänzenden Lochs, verfallenen Bauernhöfen und Kirchenruinen.
Manche Leute meinen, Shetland wäre öde, trostlos, und sie kann sich vorstellen, dass es im Winter tatsächlich so ist, mit den schroffen Felsen, die in den grauen Ozean ragen, mit vom Sturm kahl geschorenen Hügeln. Aber sie liebt es.
Die Berge und das Moorland erinnern sie an den Pelz eines Tieres, einer mächtigen schlafenden Bestie, behaart und verschorft und vernarbt. Doch selbst an den trübsten Tagen strahlt dieser Ort eine subtile Schönheit aus – man muss nur den richtigen Blick dafür haben. Wie beim Lachs in der Fabrik – nur ein silbriger Fisch, bis man richtig hinsieht, um zu bemerken, wie prachtvoll er ist: mit Leopardenmuster, schillernd und in der Farbe der Wolken.
Sie biegt ab in eine einspurige Straße, vorbei an der uralten Ruine eines Cottages, neben der ein paar Schafe Schutz gesucht haben, ihr wolliges Fell zerzaust im Wind. Beim Ein- parken hat sie die Zigarette noch nicht aufgeraucht. Sie stellt den Motor aus und bleibt einen Moment sitzen, nimmt noch ein paar letzte Züge.«
Textauszug übersetzt von Constanze Suhr